Die Kanzlerin by Eine Fiktion

Die Kanzlerin by Eine Fiktion

Autor:Eine Fiktion [Fiktion, Eine]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Konstantin Richter, Kanzlerin, Angela Merkel, Politik, Deutschland
veröffentlicht: 2017-03-12T23:00:00+00:00


Am Tag, nachdem sie die Flüchtlinge besucht hatte, wachte die Kanzlerin in der Morgendämmerung auf. Sie hatte gut geschlafen und fühlte sich derart ausgeruht, dass sie die Kraft, die sie spürte, nicht gleich vergeuden wollte, indem sie, wie sonst üblich, Sauer sein Obstfrühstück machte. Anstatt im Nachthemd in der Küche zu stehen, Äpfel zu schneiden und Nüsse zu raspeln, zog sie sich an und rief den Wagen. Im Kanzleramt angekommen, nahm sie den Fahrstuhl in den siebten Stock. Sie begab sich in die Skylobby. Sie liebte es, bei Sonnenaufgang von oben auf die Stadt zu schauen. Allein in der Skylobby hatte sie so ein schönes freiheitliches Gefühl. Und außerdem die besten Ideen.

Dieses Mal also überlegte die Kanzlerin, vorm Fenster am Geländer stehend, wie sie die Deutschen an ihrer guten Stimmung teilhaben lassen könne. Sie wollte die Menschen mit ihrer Zuversicht anstecken und begeistern. »Schaut her«, würde sie ihnen sagen. »Ich weiß, dass ihr verunsichert seid. Aber vertraut mir, es wird alles gut. Ihr müsst mir nur versprechen, dass ihr mitmacht.«

Denn wenn es etwas gab, das ihre Freude in diesen Tagen trübte, war es die Vorstellung, dass sich die Deutschen auf das, was sie selbst erlebte, nicht einlassen würden. Gewiss, es gab die Freiwilligen, die Unterstützer, die vielen Menschen, die Flüchtlinge in ihren Häusern willkommen hießen. Aber die Kanzlerin dachte auch, dass es insgesamt zu wenige waren, die sich auf diese Weise engagierten. Und dass der Zauber des Anfangs, der unzweifelhaft da war, irgendwann verfliegen würde, wenn er nicht genutzt und in die richtigen Bahnen gelenkt wurde.

Die Kanzlerin meinte, die Deutschen gut zu kennen. Sie glaubte, dass die Deutschen an und für sich träge waren. Sie hatten es gerne bequem. Sie machten es sich in ihrer kleinen Welt gemütlich. Sie umgaben sich am liebsten mit denen, die sie schon ewig kannten. Selbst Nachbarn siezten einander in Deutschland, dachte die Kanzlerin (und dabei fiel ihr ein, wie lange sie sich schon vorgenommen hatte, der Büroleiterin das Du anzubieten, es war mehr als überfällig).

In Zeiten also, in denen die Welt immer enger zusammenrückte, erschien es ihr wichtig, sich nicht zu verschließen. Offene Grenzen auch als Chance zu begreifen. Mut zum Neuen zu haben. Ja, die Kanzlerin glaubte im Überschwang des Gefühls sogar, dass die Begegnung mit dem Fremden den Deutschen guttun würde, und dabei dachte sie nicht bloß an die demographische Entwicklung und an die offenen Lehrstellen. Nein, die Deutschen brauchten ihrer Meinung nach einen heilsamen Schock, um sich einzustellen auf das, was ihnen in einer globalisierten Welt bevorstand. Wobei ihr das Wort »Schock« nach kurzer Erwägung doch zu hart erschien. Vermutlich war es besser, von einem »Schub« zu sprechen, das klang weniger bedrohlich.

Noch etwas machte der Kanzlerin Sorgen. Es gab ihrer Meinung nach nicht nur die Mehrheit der trägen Deutschen, sondern auch die Minderheit der feindseligen Deutschen, jene also, die allem, was fremd war, misstrauten, die das Fremde sogar hassten. In den letzten Tagen hatten sich die feindseligen Deutschen noch zurückgehalten. Zu überrascht waren sie wohl angesichts der Euphorie, die von den Medien mitgetragen wurde.



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